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Judiths prämierte Geschichte / Seite 10:

Tim präsentiert dem Türsteher seine VIP - Karte und darf eintreten. Mit seiner Tochter auf dem Arm, bahnt er sich seinen Weg vorbei an Leuten, die schrecklich wichtig tun und versuchen, möglichst einflußreich auszusehen. In einem kleinen Grüppchen entdeckt er Lisa in einem langen roten Abendkleid.
Sie sieht ihn und winkt ihm zu. In diesem Moment ertönt ein helles Klingel und alle begeben sich auf ihre Plätze. "Na, wie war dein erster Schultag?", will Lisa wissen, als die Familie in ihrer Loge zusammen sitzt. "Super. Einige Kinder kannte ich sogar schon aus der Spielgruppe. Und ich habe sogar schon ein bißchen Englisch gelernt! Ich kann jetzt sagen: My name is Alessia. I am six years old." berichtet Alessia stolz und Lisa ist beeindruckt.

Im Stadion tut sich allmählich was: Die Hintergrundmusik verstummt plötzlich. Einen Augenblick ist es ganz still. Dann ertönen Fanfaren und ein Tor öffnet sich. Der Einzug der verschiedenen Nationen beginnt.
Den Anfang bildet eine große afrikanische Flagge, die von sechs Athleten getragen wird. Der Flagge folgen alle afrikanischen Athleten. Jeder von ihnen ist in den Farben seines Heimatstaates gekleidet.
Auf den Kontinent Afrika folgt Amerika, dann Asien und Australien. Und hinter dem australischen Banner kann man schon etwas Blaues schimmern sehen: Den Schluß der Prozession bildet Europa. Der europäischen Fahne folgt das Wappen des Ruhrgebietes, getragen von Bergarbeitern. Einige alte Menschen werden ein wenig sentimental bei diesem Anblick, die jüngeren jedoch kennen die "Kumpels" nur noch als Denkmäler.
Jede Flagge wird nun zu einem der Fahnenmaste getragen und die Athleten nehmen in den ersten Reihen der Tribünen Platz. Nun ist es für einige Sekunden ruhig. Dann ertönt eine weiter Fanfare.
Ein Mann und eine Frau mit einer Fackel in der Hand betreten das Stadion. Unter den Jubelrufen der Hunderttausenden im Stadion laufen sie zur Treppe, die zur Schale des olympischen Feuers führt. Erst nach einem erneuten Tusch steigen sie die 400 Stufen hinauf. Oben angekommen warten sie einige Sekunden und entzünden dann das olympische Feuer. Im gleichen Moment werden alle Flaggen gehißt.
Ein Symphonieorchester betritt die Bühne, gefolgt von Sängern in schwarzen Anzügen und Sängerinnen in langen Kleidern in der selben Farbe. Sie spielen die europäische Nationalhymne. Nach einer kurzen Pause wird auch die deutsche Hymne gesungen. Jedes Mal stimmen die Zuschauer mit ein und alle überkommt eine Gänsehaut.
Nachdem der letzte Ton verklungen ist, besteigt Doris die Bühne. Mit etwas weichen Knien nähert sie sich dem Rednerpult. Sie wirft einen Blick in die Runde und wäre jetzt am liebsten eine kleine Maus, die sich ganz schnell in irgendeinem Loch verkriechen kann. Sie ist aber leider die Oberbürgermeisterin der Stadt, in der die Olympischen Spiele ausgetragen werden und muß nun die Eröffnungsrede halten. Deswegen atmet sie einmal tief durch, knipst das Mikrofon an und beginnt:
"Im Namen des Ruhrgebietes möchte ich mich an dieser Stelle noch einmal für die Wahl unserer Stadt als Austragungsort bedanken. Wir sind uns bewußt, daß dies eine außergewöhnliche Wahl war, denn eine Stadt, die sozusagen noch in ihren Kinderschuhen steckt, mit so einer großen Aufgabe zu betrauen, könnte von manchen als Wagnis empfunden werden. Wir sehen dies jedoch als Chance, der Welt zu beweisen wie "das Revier" wirklich ist.

 

Seit Jahrhunderten sind wir ein Schmelztiegel. Menschen aus den verschiedensten Ländern leben und arbeiten hier gemeinsam, was sicherlich nicht immer leicht ist. Und doch fühlt sich hier jeder zu Hause, denn jeder wird respektiert, egal welcher Herkunft er ist. Toleranz ist eines der wichtigsten Schlagworte hier im Ruhrgebiet. Und doch werden Sie selten jemanden dieses Wort sagen hören. Wir leben es einfach. Unter dieses Lebensmotto wollen wir auch die diesjährige Olympiade stellen. Ich erkläre hiermit die Olympischen Spiele für eröffnet!" Das Stadion jubelt und alle Bürger des Ruhrgebietes fühlen sich nach dieser Rede irgendwie zusammengehörig. Selbst Tim hält die Rede der Oberbürgermeisterin diesmal für gelungen. Auch wenn er jetzt versuchen muß, Alessia das Wort "Toleranz" zu erklären. Lisa hat gar nicht richtig zugehört, sie ist in Gedanken schon bei ihrem Buffet und hofft, daß es allen Gästen schmeckt und nichts schief geht.
Susa und Tobias tanzen derweil gemeinsam mit den übrigen Zuschauern auf den Stühlen und freuen sich an dem Olympischen Feuer.

"Und wegen der paar Sätze war deine Mutter so nervös?", fragt Pierre, "Na, ja. Wenigsten war sie schön kurz und wir können endlich essen gehen." Fabian lächelt nur stumm. Mit den "paar Sätzen", wie Pierre es ausdrückt, hat seine Mutter ihn davon überzeugt, daß es hier doch nicht so schlecht ist. Eine Zukunft im Ruhrgebiet kann er sich inzwischen doch ganz gut vorstellen.